4. Das Seitenleitwerk

Das Horten-Prinzip -
Braucht man das Seitenleitwerk wirklich?

• Ausgabe Aviator 04/2009 •

Beeindruckt durch die Idee Lippischs, alles, was nicht am Auftrieb eines Flugzeugs beteiligt ist, als störendes Beiwerk wegzulassen, verfolgten die Gebrüder Horten schon als Schüler in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts den Gedanken, ein Flugzeug zu konstruieren, das tatsächlich nur aus einer Tragfläche bestand. Selbst das Seitenleitwerk sollte dran glauben.

Ob es sich hierbei um eine so gute Idee handelte, war lange Zeit Gegenstand hitziger Diskussionen. Als die Gebrüder Horten zunächst versuchten, Modelle – damals noch ohne jede Möglichkeit der Fernsteuerung – erst Segler, dann Motorsegler bis hin zu Kampfflugzeugen nach ihrem Konzept zu entwerfen, konnte man beobachten, dass sich offenbar dennoch zumindest das Prinzip des Seitenleitwerks bei allen kommerziellen Flugzeugmustern finden ließ – und wenn nur in Form eines V-Leitwerks.

 

 

 

Der schräg gestellte Schwanzfächer wirkt wie ein Seitenruder

 

 

 

 

 

Zeichnung eines frühen Flugsauriers. (Ramphorhynchus) Untersuchungen der Wirbelstruktur zufolge stand das Schwanzsegel senkrecht, wie der Paläontologe Wellnhorfer in seinem Werk „Flugsaurier“ beschreibt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Funktion des Seitenleitwerks

Doch bevor man etwas scheinbar so Bewährtes wie das Seitenleitwerk weglässt, sollte man die Frage klären, wozu dieses überhaupt dient. Vor allem auch deshalb, weil das Konzept des Seitenruders in der Natur weite Verwendung findet. Nicht nur die frühen Flugsaurier wie beispielsweise der Ramphorhynchus besaßen einen langen Schwanz mit senkrecht stehender Strömungsfläche, auch Vögel können bei Bedarf ihren Schwanzfächer so weit drehen, dass er fast senkrecht steht und als Seitenruder wirkt.

Wie auch beim Höhenleitwerk, führt der Begriff Seitenleitwerk in die Irre. Die korrekte Bezeichnung wäre Hochachsenleitwerk oder Schiebeflugstabilisator, denn direktes Lenken ist mit dem Seitenleitwerk beziehungsweise Seitenruder gar nicht möglich. Dies scheint paradox, ist es doch zumindest mit einfachen Zweiachser-Modellen möglich, die Flugrichtung mit dem Seitenruder zu beeinflussen. Um diesen scheinbaren Widerspruch zu verstehen, müssen wir uns den Vorgang des Lenkens etwas näher ansehen.

 

 


Bei einem Ausschlag des Seitenruders kommt es zum Schiebeflug

 

 

Beim Schiebeflug wird das Seitenleitwerk schräg angeströmt und erzeugt eine Querkraft

Der Kurvenflug

Die Richtungsänderung eines Flugzeugs funktioniert nach einem völlig anderen Mechanismus, als man es von Fahrzeugen mit kraftschlüssigem Kontakt zu einem festen Medium – der Straße – gewohnt ist. Ein Lenken im eigentlichen Sinne erfolgt dabei gar nicht. Um eine Kurve zu fliegen, benötigt ein Modell eine Möglichkeit, die Fliehkraft der Kreisbewegung zu kompensieren. Die einzige Kraft, die dafür infrage kommt, ist der Auftrieb. Somit muss das Modell in eine gewisse Schräglage gehen, wodurch dann ein Teil des ehemals senkrecht stehenden und nun um den Schräglagenwinkel gekippten Auftriebs als Zentripetalkraft der Fliehkraft entgegenwirken kann.

Da nun aber der Auftrieb nicht mehr ausschließlich gegen die Gewichtskraft wirkt, muss man etwas Höhe geben, somit den Anstellwinkel erhöhen und auf diese Weise den fehlenden Anteil durch eine Erhöhung des Auftriebs kompensieren (der Auftrieb steigt mit dem Anstellwinkel). Also ist am Kurvenflug selbst erstaunlicherweise hauptsächlich das Höhenruder beteiligt. Aber zum Erzeugen der Schräglage tritt nun das Seitenruder und – wenn vorhanden – auch das Querruder in Erscheinung.

Lenken, korrigieren

Ein Querruder ist nichts anderes als eine Ruderklappe, die den Auftrieb eines Profils durch eine Vergrößerung oder Verringerung seiner Wölbung verändert. Schlagen nun die Klappen an beiden Tragflächen in unterschiedliche Richtungen aus, so kommt es zu einem asymmetrischen Auftrieb und das Flugzeug bewegt sich in die Schräglage. Sobald der gewünschte Schräglagenwinkel erreicht ist, können die Ruder wieder auf die Neutral­stellung zurückgenommen werden. Das Flugzeug wird weiterhin im Schräglagenwinkel verharren.

Leider hat die Anwendung der Querruderausschläge einen unerwünschten, jedoch unvermeidbaren Neben­effekt: Die negativ gewölbte Fläche hat einen kleineren Auftrieb als die positiv gewölbte und damit auch weniger induzierten Widerstand. Der induzierte Widerstand hängt vom Auftrieb einer Fläche ab. Je höher der Auftrieb ist, umso höher wird auch dieser Widerstand ausfallen. Dadurch wird das Flugzeug neben der Schräglage zusätzlich in einen Schiebeflug geraten, sodass die positiv gewölbte Fläche nach hinten zeigt und die negativ gewölbte nach vorne. Wenn dieser Schiebeflug durch nichts kompensiert wäre, so würde das Flugzeug diesen Zustand so lange beibehalten, bis wieder ein Gegen­ausschlag der Querruder den alten Zustand hervorruft. Da jedoch der Schiebeflug alleine schon durch den dann schräg angeströmten Rumpf mit sehr viel Widerstand behaftet ist, muss er in jedem Fall kompensiert werden. Dazu dient das Seitenleitwerk.

Schiebekompensation durch Rückpfeilung Schiebekompensation durch eine stark negative Schränkung

Es wird schräg angeströmt und vermag nun, wenn es ausreichend groß ist, über seine Auftriebskraft ein Moment zu erzeugen, das den Schiebeflug beendet. Sollte die Wirkung in einer bestimmten Situation nicht ausreichend groß sein, kann sie mit Hilfe des Seiten­ruders aktiv vergrößert werden. Bei manchen Modellen ist es ratsam, beim Querruderausschlag immer etwas Seitenruder beizumischen. Sollte dies nötig sein, so ist es ein deutliches Zeichen für ein zu klein dimen­sioniertes Seitenleitwerk oder einen zu kurzen Leit­werksträger. Das Seitenleitwerk dient also in erster Linie dazu, die unerwünschten Nebeneffekte des Querrudereinsatzes zu kompensieren.

Ohne Quer geht’s auch

Unter bestimmten Voraussetzungen ist es möglich, ganz auf den Einsatz von Querrudern zu verzichten. Gerade bei kleinen Modellen mit hoher Agilität (geringe Trägheiten bei kleiner Masse und geringer Spannweite) ist die schnelle Reaktion, die mit Querrudern erreichbar ist, nicht von zentraler Bedeutung. Doch wie kann ein Seitenruder ein Flugzeug in Schräglage versetzen, wo es doch nur Auswirkungen auf die Hochachse haben kann? Ein Kurvenflug lässt sich mit dem Seitenruder nur einleiten, wenn das Flugzeug über eine ausreichende V-Form verfügt. Schlägt das Seitenruder aus, so wird das Flugzeug zunächst tatsächlich lediglich in einen Schiebeflug übergehen.

Eine Fläche wird dadurch vorauslaufen, die andere zeigt ein wenig nach hinten. Durch die V-Form der Tragflächen wird sich nun jedoch der Anströmwinkel an der rücklaufenden Fläche verringern, an der vorlaufenden hingegen vergrößern. Der Auftrieb einer Tragfläche ist unter anderem von diesem Anströ­mwinkel abhängig. Demzufolge wird durch die daraus resultierende asymmetrische Auftriebsverteilung ein Drehmoment erzeugt, das die gewünschte Schräglage bedingt.

Flügel ohne alles

Die Idee der Brüder Horten war es nun zu versuchen, die den Schiebeflug kompensierende Wirkung des Seiten­ruders durch andere Maßnahmen zu ersetzen, um auf die im Normalflug unnütze Widerstandsfläche des Seitenruders verzichten zu können. Die Strategie bestand aus zwei Teilen: Der erste Teil des Konzepts war eine ausgeprägte Pfeilung. Schiebt ein derart gepfeilter Flügel, so wirkt der zurücklaufende Flügel aus Sicht der Anströmung verkürzt. Er dreht sich quasi ein wenig aus der Anströmung heraus und verringert damit seine Angeströmte Fläche und damit seinen Widerstand. Der andere Flügel hingegen hat nun etwas mehr Fläche in der Strömung. Dadurch steigt sein Widerstand. Ein den Schiebeflug kompensierendes Drehmoment entsteht.

Diese Maßnahme alleine hatte jedoch noch kein ausreichend hohes Kompensationspotenzial. Daher musste zusätzlich eine zweite Möglichkeit zum Tragen kommen. Typisch für die Horten-Konstruktionen ist die teilweise extrem starke negative Schränkung von bis zu -15 Grad an den Außenflächen in Verbindung mit einer V-Form. Ähnlich wie schon beim Zweiachs-Modell, führt dabei ein Schiebeflugzustand zu einem sehr stark unterschiedlichen Anstellwinkel, was den Auftrieb und damit auch den induzierten Widerstand, der – wie schon erwähnt – direkt vom Auftrieb abhängt, an der vorauslaufenden Fläche deutlich erhöht, an der zurücklaufenden stark vermindert. Nachteilig dabei ist jedoch, dass durch den asymmetrischen Auftrieb eine Rückstellung von der Schräglage nach Einsatz der Querruder erfolgt. Der Nurflügler wird also, anders als ein klassisches Leitwerksmodell, nicht unbedingt in der jeweiligen Kurvenschräglage verharren. Dies ist ein überstabiles Verhalten, das gerade beim Thermikflug nicht immer erwünscht ist.

Durch diese Geometrie gelang es den Gebrüdern Horten schließlich, leitwerklose Flugzeuge mit recht ordentlichen, aber letztlich doch nicht konkurrenzfähigen Flugleistungen zu konstruieren. Dennoch war damit eine aktive Hochachsensteuerung, wie sie mit einem Seitenruder möglich ist, nicht gegeben. Hierzu wurden dann Störklappen eingebaut, die asymmetrisch ausgefahren werden konnten und somit die jeweilige Flächenhälfte bremsten. Eine stark verlustbehaftete Lösung, die, zusammen mit den hoch geschränkten Flügelenden und der damit ungünstigeren Auftriebs­verteilung, die Flugleistungen negativ beeinflussten.

Kein Vorteil

Die Horten-Geometrie führte zu einer glockenförmigen Auftriebsverteilung, was zur Folge hatte, dass gerade die letzten 20 bis 30 Prozent der Tragfläche kaum noch zum Gesamtauftrieb beitrugen.

In der Praxis stellte sich letztlich heraus, dass dies den Vorteil des Verzichts auf das Seitenleitwerk vollkommen aufzehrte.

Heute findet man Nurflügel nach dem Horten-Prinzip nur noch im Modellflug – von einer Ausnahme abgesehen, dem schweren Stealth-Bomber B-2 Spirit der US-Airforce.

(Quelle: http://aparejodefortuna.files.wordpress.com)

Der Verzicht auf das komplette Leitwerk hat dabei jedoch die Intention, jede mögliche Reflexionsfläche für Radarstrahlung zu eliminieren, wie sie vor allem winklige Flächenstrukturen darstellen würden. Die Aerodynamik dieses Flugzeugs stand dabei nicht im Vordergrund. Sie ist tatsächlich miserabel.

Zusammenfassung

Das Seitenleitwerk hat als zentrale Aufgabe die negativen Folgen eines Querruders zu kompensieren.

Möchte man darauf verzichten, müssen andere Mechanismen zur Kompensation angewendet werden. Die damit verbundenen Nachteile sind jedoch größer als der Verzicht auf das Seitenleitwerk als eine Widerstands­fläche, die selbst keinen Auftrieb erzeugen kann.